Der vergessene Holocaust

Silke Kettelhake

Das Schicksal der Juden Bessarabiens und der Bukowina

„Wer nicht weiß, woher er kommt — weiß auch nicht, wohin er will.“ 
Ein Sprichwort aus Czernowitz

Max Meerbaum ist 15 Jahre alt, als er seiner Mutter einen letzten Kuss gibt. 1912 will er raus aus der Armut, aus der Finsternis des Dorfes in der Bukowina und reist in mehreren Tagesetappen allein nach Berlin. Er hofft, in den Gassen der Spandauer Vorstadt, hinter dem Alexanderplatz, wo es nach Küche und Kanalisation riecht, den Bruder seiner Mutter zu finden. Die Angst begleitet den Jungen wie ein dumpf tönender, stetiger Grundbass und das Nagen des Hungers gehört zu ihm, seit er denken kann. Max schlägt sich durch in einem Milieu aus Kriminellen, Huren und Hausierern, findet seinen Onkel und lernt bei ihm das Schuhmacherhandwerk. Schuhe gehen immer kaputt, ein Schuhmacher wird immer gebraucht, auch in Zeiten des Krieges oder der Hyperinflation. Der Einberufungsbescheid in die österreichisch-ungarische Armee erreicht den 17-jährigen Max in Berlin. Zurück in der Garnisonsstadt Czernowitz steckt man ihn in einen Trupp voller Juden, um sie in die vordersten Linien zu schicken. In den Karpaten tobt der Gaskrieg. Der Erste Weltkrieg stellt mit nahezu 17 Millionen Todesopfern alles bis dahin Gekannte in den Schatten.

Max überlebt. Die Straßenbahn fährt ihn ratternd durch Czernowitz, das jetzt offiziell Cernăuţi heißt. Rumänisch wird Unterrichtssprache. „Sprecht rumänisch“, schreien die großen Schilder, die niemand beachtet. Auf den Straßen hört er Deutsch, Jiddisch, Polnisch, Ruthenisch. Der Springbrunnenplatz trennt die Unter- und Oberstadt voneinander, von hier läuft Max in das jüdische Viertel, wo in der Judengasse der Wochenmarkt abgehalten wird. 40 Prozent der Einwohner Czernowitz‘ sind Juden.

Max bleibt vor einer schmalen Schaufensterauslage stehen, in der eine junge Frau Hefte, Zwirne, Nadeln, alles Kleinigkeiten des täglichen Lebens, ordnet. Die junge Frau lächelt ihn an und senkt schnell den Blick. Max und Frieda heiraten und nach einigen Jahren bringt Frieda am 15. Februar 1924 Selma zur Welt. Dem jungen Vater wird alles zur zehrenden Kraftanstrengung, Hustenanfälle und Fieberschübe erschüttern ihn. Die aus dem Krieg verschleppte Tuberkulose hält Max Meerbaum im Todesgriff. Als er mit 28 Jahren stirbt, hat seine zweijährige Tochter gerade laufen gelernt und übt ihre ersten Worte.

Anfang der 1920er Jahre karikierte George Grosz in dem illegal publizierten Satireblatt „Die Pleite“1  den martialisch in eine nationalsozialistische Zukunft blickenden Lokalmatador aus Österreich, Adolf Hitler. Doch Grosz verkennt Hitlers Gefährlichkeit. In Deutschland gehen mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in allen Schichten des „uralten Volkes“ Panik und zugleich eine lähmende Leugnung der Angst um, unter den armen wie unter den großbürgerlichen, oft assimilierten Juden. Selmas Mutter heiratet Leo Eisinger ein Jahr nach dem Tod ihres ersten Mannes. Die Familie wohnt im Norden der Stadt, im ersten Stock eines Hauses, das sich an den Sockelfuß der Habsburgshöhe schmiegt. Das Wasser holen Selma und ihre Mutter mit Eimern von der Pumpe, elektrisches Licht gibt es nicht. Selma träumt sich fort in die Welt der Bücher, die ihr eine ungeahnte Freiheit eröffnen: die der eigenen Gedanken.

Mit dem bejubelten Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich am 12. März 1938 und dem Überfall auf Polen am 1. September 1939, Selma ist 15 Jahre alt, rücken die Nazis vor. Wenige Tage darauf erklären England und Frankreich Deutschland den Krieg, im Radio laufen Berichte von der Bombardierung Warschaus. Die Schreckensszenarien aus „Mein Kampf“, die mit der Eroberung des Ostens einhergehen, sind Wirklichkeit: Polnische Familien werden über Nacht aus ihren Häusern vertrieben, die jüdischstämmige Bevölkerung zusammengetrieben und erschossen, die polnische Intelligenz in Konzentrationslagern interniert und misshandelt. Niemand hält die Zerstörungen und Morde in Polen auf. Am 27. September fällt Warschau, Polen kapituliert und wird nun von Deutschland und der Sowjetunion gleichermaßen beherrscht.

Ein Jahr später lernt Selma in der zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair Lejser Fichman kennen und verliebt sich in ihn. In der Gruppe lesen und diskutieren sie gemeinsam. Da sind die Tagebücher des Theodor Herzl, da sind Nietzsche, Kant, Schopenhauer, Spinoza, Plato, Tolstoi, Romain Roland, Thomas Mann, Upton Sinclair und die für Selma ganz besonders wichtigen Sprachvirtuosen Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Paul Verlaine und der indische Vordenker Rabindranath Tagore. Doch Lejser will nach Palästina, ins Gelobte Land, er hat keine Zeit für die Liebe: „O lege, Geliebter, / den Kopf in die Hände / und höre, ich sing’ dir ein Lied. / Ich sing’ dir von Weh und von Tod und vom Ende, / ich sing’ dir vom Glücke, das schied“, schreibt Selma für Lejser. Als wollte sie sich gegen alle Bedrohungen und Zwänge zur Wehr setzen, erzählt Selma mit ihren 57 Gedichten von ihrer Liebe und der gleichzeitigen, der dunklen Ahnung, dass sich nichts, aber auch gar nichts erfüllen wird. Sie verlässt die Wirklichkeit und wohnt in ihren Traumworten – ganz und gar allein, ohne jedes Echo. Schreiben ist ihr Leben, ist Überleben in einer anderen Ebene. Mit ihren Worten umschlingt Selma den Geliebten, um mit ihm eins zu werden: „Komm zu mir, dann wieg’ ich dich, / wiege dich zur Ruh’. / Komm zu mir und weine nicht, / mach die Augen zu.“

Hashomer-Hazair ist für viele geistiges Zuhause, es gilt, wann immer ein Shomer einen anderen Shomer treffe, so treffe er auf einen Freund, und es gilt, die vielen aus Polen geflüchteten Juden, die von Gräueltaten und gezieltem Morden berichten, zu unterstützen. Ende Juni 1940 erzwingt die Sowjetunion die Abtretung Bessarabiens und der nördlichen Bukowina mit Czernowitz. Ein Hoffnungsstrahl für das, was die jüdischen Jugendlichen unter Hagschamah, Selbstbehauptung, Selbstverwirklichung, verstehen, also die Hoffnung Richtung Sozialismus? Etwa 4.000 Männer, Frauen und Kinder werden als „unzuverlässige Elemente“ nach Sibirien deportiert, darunter viele Juden.

Ein Blitzkrieg jagt den nächsten. In Jugoslawien bringt ein Staatsstreich eine pro-alliierte Regierung an die Macht. Sogleich befiehlt Hitler die Besetzung des Landes zusammen mit der geplanten Offensive gegen Griechenland. Rumänien verbündet sich mit Deutschland nach der Besetzung von Teilen des Landes durch die Sowjets Ende 1940.

Am 22. Juni 1941 startet Nazideutschland im Schulterschluss mit Rumänien den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Die rumänischen Truppen erreichen am 5. Juli 1941 Czernowitz, schätzungsweise 2.000 bis 3.000 Juden werden während der ersten 24 Stunden des Einmarsches ermordet. Die SS-Einheit, die in den folgenden sechs Wochen etwa 1.600 Juden ermorden wird, kommt drei Tage nach den Rumänen in die Stadt und zieht Anfang August nach Transnistrien ab. Danach ist die Vernichtung der Czernowitzer Juden wieder eine „rumänische Angelegenheit“. Die Juden müssen den gelben, sechszackigen Stern tragen, als ihr Stigma. Ab sechs Uhr abends gilt für sie eine Ausgangssperre — wer ergriffen wird, wird erschossen.

Am Samstag, dem 11. Oktober 1941, müssen alle Juden der Stadt bis 18 Uhr ihre Häuser und Wohnungen verlassen und im unteren Teil des Judenviertels, gleich hinter dem Güterbahnhof im mit drei Meter hohem Stacheldraht umzäunten Getto unterkommen. Fünfzigtausend Menschen werden auf engstem Raum zusammengepfercht. Die Winterkälte und die Seuchen fordern ihre Opfer, erst unter den Kindern und den Alten. Die Toten liegen neben den Lebenden, geschlafen, geboren und gestorben wird überall, auf den wenigen Betten, auf Tischen, auf den Nähbänken. Selbstmorde gehören zum Alltag. Jeden Tag verschwinden Freunde und Bekannte – Deportationen in die Massengräber östlich des Dnjestr. Auch Lejser Fichman ist im Czernowitzer Getto. Nach der Auflösung des Gettos im November 1941 wird er im Februar 1942 zur Zwangsarbeit in das rumänische Arbeitslager Tabaresti transportiert. Wie auch Paul Celan und Moses Rosenkranz; sie bauen Straßen in Rumänien. Selma sieht Lejser nie wieder.
Zwischen dem 15. Oktober und 05. November 1941 werden ca. 28.400 Juden von rumänischen Gendarmen und rumänischem Militär nach Transnistrien deportiert. 15.000 Juden erhalten eine Aufenthaltsgenehmigung des Gouverneurs Calotescu für Czernowitz, ebenso knapp 5.000 Juden durch den Bürgermeister Popovici. So wie Selma und ihre Eltern: Sie dürfen das Getto verlassen. Das Getto ist aufgelöst. Die in ihre Wohnungen zurückgekehrten Juden sitzen während der Deportationen, die im Juni 1942 stattfinden, wie die Maus in der Falle. Samstags und sonntags werden die Listen abgearbeitet, 4.500 Frauen, Männer und Kinder. Am Montag seufzen die auf, die verschont blieben vom Abtransport in die berüchtigten Lager Transnistriens zwischen den Flüssen Dnjestr und Bug. Hier sterben etwa 200.000 der aus der Bukowina und Bessarabien deportierten Juden – ein Teil des Holocausts an der Peripherie Europas, der in Vergessenheit geriet.

Vom Juni 1941 bis April 1942 werden von den Nazi-Einsatztruppen im Osten und ihren Verbündeten über eine halbe Million Menschen ermordet. Im Januar 1942 hatte Reinhard Heydrich, regieführend im Reichssicherheitshauptamt, in der Villa Minoux am Berliner Wannsee zu einer „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ geladen. Das Protokoll führte SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Die Logistik des Völkermords stand zur Debatte. Der Tod der europäischen Juden ist längst beschlossene Sache. Adolf Eichmann sagte über die Wannsee-Konferenz in dem Prozess, der ihm 1961 in Israel gemacht wurde: „Hier war nicht nur eine freudige Zustimmung allseits festzustellen, sondern darüber hinaus ein gänzlich Unerwartetes, ich möchte sagen Übertreffendes und Überbietendes im Hinblick auf die Forderung der Endlösung der Judenfrage.“
Am 28. Juni 1942 werden auch Selma und ihre Eltern abgeholt. Eisenbeschlagene Stiefel treten gegen die Wohnungstür. Eine sogenannte Inventur wird gehalten, alle Wertgegenstände okkupiert, die Familie muss auf einen Lastwagen klettern, auf den alte Menschen und Kinder einfach geworfen werden. Auf den Sammelstellen am Springbrunnenplatz, am Heiligenkreutzplatz und am Petersplatz werden die Menschen nochmals durchsucht. Alles, was von Wert ist, wird ihnen abgenommen. Nichts als der Tod, die Vernichtung durch Arbeit, wartet auf sie. Nach langen Eisenbahnfahrten in verschlossenen Viehwaggons und wochenlangem Aufenthalt in der sommerlichen Gluthitze des Lagers Cariera de piatra werden sie am 18. August 1942 der SS übergeben, die sie mit ca. 400 anderen Juden über den Bug – und damit aus dem rumänisch verwalteten Gebiet hinausbrachte. Im SS-Arbeitslager Michailowka arbeiten die Juden an der Heeresstraße IV für die Organisation Todt.

Selma stirbt am 16. Dezember 1942 an Flecktyphus. Ihre Eltern werden am 10. Dezember 1943 wie alle noch lebenden Juden des Lagers von einer SS-Einheit erschossen. Von den 1.200 Juden, die insgesamt im Lager Michailowka gefangen waren, konnten im Laufe der Jahre 40 fliehen. Alle anderen wurden ermordet.
 
Fussnoten
1  Herausgeber waren George Grosz, Wieland Herzfelde und sein Bruder John Heartfield.

Literatur

  • Benz, Wolfgang, Barbara Distel (Hrsg.). Der Ort des Terrors: Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jungendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeitslager. C.H. Beck, München 2009.
  • Friedrich, Thomas. Die missbrauchte Hauptstadt, Hitler und Berlin. Propyläen Verlag, Berlin 2007.
  • Haffner, Sebastian. Historische Variationen. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), Stuttgart 2001.
  • Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Erzieherausschuss der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit (Hrsg.). Ghettos. Vorstufen der Vernichtung 1939-1944. Menschen in Grenzsituationen. Texte und Unterrichtsvorschläge. Stuttgart 2000.
  • Piper, Ernst, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. Pantheon, München 2007.
  • Pollack, Martin. Galizien: Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Insel Verlag.
  • Ranner, Gertrud u.a. (Hrsg). ... und das Herz wird mir schwer dabei. Czernowitzer Juden erinnern sich. Reihe: Potsdamer Bibliothek östliches Europa – Erinnerungen. Deutsches Kulturforum östliches Europa, Potsdam 2009.
  • Roth, Joseph. Juden auf Wanderschaft. DVA, München 2006.
  • Yavetz, Zvi. Erinnerungen an Czernowitz: Wo Menschen und Bücher lebten. C. H. Beck, München 2008.

Die Publizistin Silke Kettelhake ist seit 2001 Redakteurin bei Redaktion und Alltag. In der Verlagsgruppe Droemer Knaur veröffentlichte sie 2008 die erste Biographie über Libertas Schulze-Boysen (1913-1942), Mitglied der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“. 2010 erschien im Osburg Verlag von Silke Kettelhake die Lebensgeschichte der jüdischstämmigen Bildhauerin Renée Sintenis.