„Jugendliche werden nicht intolerant geboren“

Susanne Benizri

Interview mit Susanne Benizri, Projektkoordinatorin Likrat
 
Frau Benizri, bitte erklären Sie doch kurz in Ihren eigenen Worten, was Likrat ist und was das Ziel des Projektes ist.

Likrat ist Hebräisch und heißt „in Begegnung“. Das gleichnamige Projekt sucht die Begegnung unter Jugendlichen mit unterschiedlichen religiösen Hintergründen. Junge Jüdinnen und Juden stellen in Zweierteams ihr Judentum in Schulklassen vor. Das Spannende an dieser Form des Dialogs ist, dass durch die Gleichaltrigkeit der Dialogpartner Nähe geschaffen wird und sich ein Gespräch „auf Augenhöhe“ entwickelt.

Likrat-Begegnungen ermöglichen ein lebendiges, bleibendes und bildendes Erlebnis. Auf diese Weise möchte das Projekt Schülerinnen und Schülern einen unbefangenen Zugang rund um das Thema Judentum geben. Darüber hinaus hilft es stereotype Wahrnehmungen zu durchbrechen und stattdessen ein gegenwartsbezogenes Judentum zu vermitteln.

Wie ist die Idee zu Likrat entstanden?

Die Hochschule für Jüdische Studien versucht, im Auftrag des Zentralrats der Juden in Deutschland, mit dem Projekt „Likrat –  Jugend und Dialog“, neue Wege im Bereich der Prävention gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit einzuschlagen. In diesem ursprünglich Schweizer Konzept erkannten die Initiatoren die Chance, mögliche stereotype Wahrnehmung von Juden bei nichtjüdischen Jugendlichen durch eine alterskonforme Begegnung mit jüdischen Jugendlichen zu durchbrechen.

Judentum soll als lebendiger Bestandteil der deutschen Gesellschaft wahrgenommen und nicht auf die Konfrontation mit dem Holocaust reduziert werden. Schon die Begegnung mit jüdischen Jugendlichen, die sich nicht auf die, oftmals aus Unwissenheit zugeschriebene, Opferrolle festgelegt sehen möchten, ermöglicht eine unbefangene Annäherung an den historischen Kontext und wird so den jüdischen wie nichtjüdischen Jugendlichen als auch der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust besser gerecht.

Die ursprüngliche, eidgenössische Grundidee wurde in ein Modellprojekt für Deutschland übertragen. In der Konzeptionsphase wurde evaluiert, inwieweit das Schweizer Vorbild auf Deutschland übertragbar ist, wo modifiziert werden müsste, wo in Deutschland die Akzente des Programms liegen sollten und inwieweit die spezifisch deutsch-jüdische Geschichte in dem Entwurf des Projektes berücksichtigt werden müsste.
Begegnungen mit jüdischen Menschen in Deutschland beschränken sich bisher in der Regel auf Zeitzeugen, Experten zum Judentum oder Austausch mit israelischen Jugendlichen. „Likrat – Jugend und Dialog“ sucht die Begegnung unter gleichaltrigen Jugendlichen mit unterschiedlichen religiösen Hintergründen und sehr vielen Gemeinsamkeiten.

Wo steht das Projekt momentan in seiner Entwicklung?

Dass Likrat etwas verändern kann, belegen Ergebnisse einer internen Projektevaluation. Mit Hilfe von Fragebögen wird erhoben, wie Schülerinnen und Schüler die Likrat-Begegnung bewerten und was sie aus dieser mitnehmen. Hervorzuheben ist die Atmosphäre in den Likrat-Begegnungen, welche als offen und von Ehrlichkeit geprägt beschrieben wird. Schülerinnen und Schüler können sich nach den Begegnungen besser vorstellen, wie jüdische Jugendliche in Deutschland leben. Dabei nehmen sie die Unterschiede im Alltagsleben von jüdischen und nicht-jüdischen Jugendlichen als weniger bedeutend wahr. Diese Perspektivübernahme wird innerhalb einer Begegnung durch Informationen über das Judentum unterstützt.

Neben Baden-Württemberg und Bayern werden mittlerweile auch Begegnungen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz angeboten. Die Ausweitung auf ein bundesweites Projekt ist in Planung.

In welchem Alter sind die Likratinis und die Schüler, die sie besuchen?

Die Likratinis sind zwischen 15 und 20 Jahre alt. Am wirkungsvollsten sind Begegnungen unter gleichaltrigen Jugendlichen, also ab der 9. Klasse und bis in die Oberstufe. Wenn es die Zeit erlaubt, folgen wir auch Anfragen aus niedrigeren Klassenstufen, dabei handelt es sich dann aber weniger um einen Austausch auf Augenhöhe, sondern vermittelt stärker Informationen zum Judentum gepaart mit einem authentischen Einblick in gelebtes jüdisches Leben in Deutschland.

Wie viele Likratinis haben Sie bis heute ausgebildet? Wie sieht so eine Ausbildung aus?

Seit 2006 nahmen etwa 80 jüdische Jugendliche an den Likrat-Ausbildungsreihen teil. In den Seminaren sollen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen intensiv für die Aufgabe vorbereitet werden, ihr Judentum in Schulklassen vorzustellen. Kurse zu jüdischer Geschichte, jüdischer Tradition, interreligiösen Belangen und eine zusätzliche Ausbildung in Rhetorik und Diskussionsführung sollen jüdische Schüler und Schülerinnen darauf vorbereiten, sich durch einen möglichst authentischen, sprich altersgerechten Informationsaustausch zum Thema Judentum einem konstruktiven Dialog stellen zu können. Wobei die Ausbildung sehr stark mit Identität und Selbstreflexion arbeitet.

Was ist, aus Ihrer Sicht, die Hauptmotivation Likratini zu werden?

Die Gründe für das Engagement jüdischer Jugendlicher in diesem Projekt sind nicht wissenschaftlich evaluiert. Viele Jugendliche möchten sich aber sicher besser auf einen Dialog vorbereiten, den sie sich schon früh in ihrem Umfeld stellen müssen. Gerne werden sie als Expertinnen und Experten zum Thema Judentum befragt. Auch selbst erlebte Ausgrenzungserfahrungen sind Gründe für ein Engagement in diesem Projekt.

Wie leben jüdische Jugendliche heutzutage ihr Judentum? Versuchen sie es „sichtbar“ zu machen oder es zu verstecken?

Bedauerlicherweise gibt es weder Erhebungen zu Religiosität von jüdischen Jugendlichen noch dazu, wie offen diese mit Ihrem „Jüdischsein“ umgehen. Die jüdischen Jugendlichen, mit denen wir in unserem Projekt zusammenarbeiten, haben sich in unseren Supervisionsseminaren und Identitätseinheiten zu diesen Fragen geäußert. Daraus schließe ich, dass der überwiegende Teil der jüdischen Jugendlichen in Deutschland eher säkular ist. Sie feiern in ihren Familien jüdische Feiertage und gehen meist nur zu den hohen Feiertagen in die Synagoge. Kaschrut (die jüdischen Speisegesetze) wird eher symbolisch gehalten. Die wenigsten halten konsequent Schabbat, wobei aber in vielen Familien freitagabends traditionell zusammengesessen wird.

Im Freundeskreis und in der Schule verheimlichen die jüdischen Jugendlichen ihr „Jüdischsein“ nicht. Es wird aber zunehmend vermieden, es nach außen zu tragen. Die Jungs tragen daher keine Kippot und es ist keine Selbstverständlichkeit eine Kette mit Davidstern anzulegen. Die Angst vor verbalen oder körperlichen Anfeindungen steigt zunehmend.
Viele Jugendliche äußern sich zu Ausgrenzungserfahrungen und Alltagsantisemitismus, der ihnen in der Schule oder der Freizeit begegnet.

Wie erzieht man Jugendliche, egal welcher Religion sie angehören, zu mehr Toleranz?

Indem man den toleranten Umgang miteinander vorlebt. Jugendliche werden nicht intolerant geboren.

Was erhoffen Sie sich für das jüdisch-deutsche Zusammenleben in den nächsten fünf, zehn, zwanzig Jahren?

Ich erhoffe mir einen entspannten, vorurteilsfreien Umgang miteinander. Unser Projekt arbeitet für eine friedliche und tolerante Gesellschaft. Es versucht Stereotype zu durchbrechen und Vorurteilen entgegenzuwirken. 

Susanne Benizri ist Lehrerin für jüdische Religion in mehreren süddeutschen Gemeinden und die Koordinatorin des Projektes Likrat an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg.